Von Faycel Bouguera

Umsetzung verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen in Tunesien

schwarz-weiß Bild mit Justitia mit verbundenen Augen, Büchern und Globus auf Schreibtisch
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Faycel Bouguera ist Verwaltungsrichter und dort Mitglied der Kassationskammer. Er ist zudem Mitglied der Kommunikations- und Presseabteilung des tunesischen Verwaltungsgerichts, Universitätsdozent und Doktorand im Öffentlichen Recht.

 Im Brief über das Richterwesen des Kalifen Umar ibn Al-Chattab an seinen Statthalter Abu Musa Al-Asch‘ari heißt es: „Denn es nützt nichts, über ein Recht zu sprechen, wenn es keine Geltung hat“.1

 Das Phänomen, dass Gerichtsurteile und insbesondere Urteile des Verwaltungsgerichts nicht umgesetzt werden, ist eine negative Tendenz. Wie auch immer die Statistiken zur Nichtumsetzung von Urteilen ausfallen, das Problem deutet auf einen institutionellen Fehler hin, der das reibungslose Funktionieren des Justizsystems beeinträchtigt und seine Wirksamkeit vereitelt. So verlieren auch die Bürgerin und der Bürger als Rechtsuchende das Vertrauen in die Rechtsprechung und in den Staat. Dieses Phänomen untergräbt staatliche Institutionen und stellt einen Angriff auf ihre Würde dar; zudem fördert es in letzter Konsequenz Korruption.

Artikel 2 des vom tunesischen Staat ratifizierten Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (Anm. d. Red.: IPbpR) von 1966 verpflichtet jeden Vertragsstaat, „dafür Sorge zu tragen, dass die zuständigen Stellen Beschwerden, denen stattgegeben wurde, Geltung verschaffen“.

Die Fragilität des rechtlichen Gefüges

Wer das nationale Rechtsgefüge betrachtet, stellt fest, dass der rechtliche Rahmen zur Umsetzung von Gerichtsentscheidungen schwach ist (1.1) und es keine Rechtsprechung zur Durchsetzung richterlicher Entscheidungen gibt (1.2).

1.1 Der schwache Gesetzesrahmen

In Bezug auf die Umsetzung von Urteilen sieht die tunesische Verfassung von 2014 in Artikel 111 im Kapitel über die Justizbehörde vor, dass „Urteile im Namen des Volkes ergehen und im Namen des Präsidenten der Republik vollstreckt werden.“

Zudem nennt Artikel 2 des tunesischen Organgesetzes Nr. 10 vom 7. März 2017 über die Meldung von Korruption und den Informantenschutz die „Behinderung von Entscheidungen der Justizbehörde“2 als eine Erscheinungsform der Korruption. Darüber hinaus bestehen entsprechende Bestimmungen in internationalen Verträgen und Vereinbarungen.

Hier ist der Begriff der rechtlichen Verpflichtung in der tunesischen Verfassung so zu interpretieren, dass er sich auf Fälle von „Nichtumsetzung“ bezieht, die der Gesetzgeber ausdrücklich auf die Formen der Einstellung der Vollstreckung eines Gerichtsurteils beschränkt hat, wie den Artikeln 64, 70, 71, 78, 79 und 86 des Verwaltungsgerichtsgesetzes von 1972 zu entnehmen ist.3

Folglich beschränken sich die Fälle tatsächlicher Gesetzesverstöße auf die Formen der „vorsätzlichen Nichtumsetzung“ von Gerichtsurteilen durch die Verwaltung. Zudem existieren keine Mechanismen, die die Verwaltung zur Umsetzung zwingen kann, da es nicht zulässig ist, staatliche Gewalt zu nutzen, um sie gegen eine öffentliche Institution einzusetzen.

In diesem Zusammenhang heißt es in Artikel 10 des Verwaltungsgerichtsgesetzes: „Das vorsätzliche Versäumnis, die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts umzusetzen, wird als grober und beständiger Fehler in der Verantwortung der betreffenden Verwaltungsbehörde betrachtet.“

Einer der Mängel dieses Rechtstextes besteht darin, dass er von der Verwaltung als Vorwand benutzt werden kann, um die Autorität rechtskräftiger Urteile und die seit 2014 verfassungsrechtlich festgelegte Verpflichtung ihrer Umsetzung zu missachten.

Dies führt zwangsläufig dazu, dass die oder der Rechtsuchende ihrer oder seiner Rechte beraubt wird, die ihr oder ihm über den Rechtsweg zugesprochen worden sind. Dies gilt insbesondere für die Aufhebung von Verwaltungsentscheidungen, etwa wenn wegen Amtsmissbrauchs Berufung gemäß Artikel 9 des Verwaltungsgerichtsgesetzes eingelegt wird und „von der Verwaltung verlangt wird, den revidierten oder ausgesetzten Rechtsstatus vollständig so wiederherzustellen, wie er ursprünglich bestand.“

Befolgt die Verwaltung diese Aufforderung hingegen nicht, führt dies zwangsläufig dazu, dass die oder der Rechtssuchende von der säumigen Behörde nun auf dem Rechtsweg eine Entschädigung verlangen muss und so ein Teufelskreis aus Rechtsstreitigkeiten entsteht.

Der Staat muss gesetzlich verpflichtet sein, den materiellen und immateriellen Schaden, der sich aus der Nichtumsetzung ergibt, finanziell zu entschädigen. Da dies aus dem Staatshaushalt gezahlt wird, werden letztendlich die Steuerzahler für einen Fehler verantwortlich gemacht, den die Leitung der Verwaltung durch ihre Weigerung begangen hat, die Entscheidungen des Verwaltungsgerichts umzusetzen.

Andere Länder haben Gesetzgebungsmechanismen entwickelt, um zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger sicherzustellen, dass die Verwaltung gerichtliche Beschlüsse umsetzt. In diesem Sinne verpflichtet Artikel 145 der algerischen Verfassung alle zuständigen staatlichen Stellen dazu, Gerichtsurteile jederzeit, überall und unter allen Umständen umzusetzen. Die sudanesische Verfassung von 1998 sieht Ähnliches vor.

Vielleicht sind individuelle Strafen die effektivste Lösung, um die Autorität rechtskräftiger Beschlüsse sicherzustellen. Der französische Gesetzgeber ist so weit gegangen, Versäumnisbußgelder von den persönlichen Mitteln des primär für die Nichtumsetzung verantwortlichen Verwaltungsbeamten abzuziehen.4

Darüber hinaus betrachtet der ägyptische Gesetzgeber die Nichtumsetzung als Straftat und sieht eine Haftstrafe für jede Verwaltungsbeamtin oder jeden Verwaltungsbeamten vor, die oder der es unterlässt, ein Verwaltungsurteil zugunsten einer Bürgerin oder eines Bürgers umzusetzen. Der palästinensische Gesetzgeber beschloss im Jahr 2003 die Verhängung von Haftstrafen sowie die Suspendierung der Beamtin oder des Beamten, wenn die Behinderung der Umsetzung von ihr oder ihm ausgeht. Zudem wurde festgelegt, dass der Staat den Geschädigten entschädigen muss.

Doch das tunesische Recht leidet weiterhin darunter, dass keine Bestimmungen zur zivilrechtlichen Haftung der für die Nichtumsetzung Verantwortlichen existieren und insbesondere Disziplinarmaßnahmen zur Gewährleistung der Umsetzung von Gerichtsentscheidungen fehlen.

1.2 Fehlende Rechtsprechung

Obwohl das Verwaltungsgericht die Gesetzestexte anwendet, die bei der Nichtumsetzung seiner Urteile eine Entschädigung vorsehen, richtet es meist keine Anordnungen an die Verwaltung, um sie zur Umsetzung der Gerichtsurteile zu zwingen oder zu erläutern, wie sie zu welchen Fristen umgesetzt werden sollen. Denn es fehlen Gesetzestexte, die dies regeln. Im Gegensatz dazu hat der französische Gesetzgeber mit dem Gesetz Nr. 125/1995 vom 8. Februar 1995 den Gerichten in unterschiedlichem Maße die Befugnis erteilt, Anordnungen an die Verwaltung zu richten und Beamtinnen und Beamten Geldbußen anzudrohen, um die Umsetzung der von ihnen gegen die Verwaltung erlassenen Entscheidungen sicherzustellen.

Für die Umsetzung von Urteilen ist auch keine weitere Gerichtsentscheidung erforderlich. Andernfalls entstünde ein Teufelskreis von Rechtsstreitigkeiten. Das Gericht vermied es auch, die Verwaltung zu ersetzen, indem es die Verwaltungsentscheidung durch ein Gerichtsurteil aufhebt und dieses als ein eigenständiges Exekutivdokument betrachtet. Abgesehen davon, dass hierfür ein gesetzlicher Rahmen fehlt, bewies das Gericht damit, dass es seinerseits die Verwaltungsentscheidung und den Grundsatz der Gewaltenteilung respektiert. Zumal sich nach dem Gesetz der Zuständigkeitsbereich des Gerichts lediglich bis zur Verkündung des Urteils und der Inkenntnissetzung der Parteien erstreckt. Entgegen den Erwartungen der Klägerinnen oder Kläger, die ihre Rechtsansprüche geltend machen und umgesetzt sehen wollen, ist das Gericht nicht mehr dafür zuständig, die Umsetzung des Beschlusses zu verfolgen.

Das im französischen Gesetz von 19805 vorgesehene Instrument der Androhung von Bußgeld- und Disziplinarverfahren (‚Astreinte‘) existiert im tunesischen Recht nicht. Außerdem würde dies den Staatshaushalt belasten, da es vorsieht, der Verwaltung für jeden Tag, um den die Umsetzung verzögert wird, ein Bußgeld aufzuerlegen.

Es existieren einige Urteile, die versuchen, Artikel 315 des Strafgesetzbuchs in Fällen der Weigerung, Gerichtsurteile umzusetzen, anzuwenden.6 Dort heißt es: „Es wird mit einer Freiheitsstrafe von fünfzehn Tagen und einer Geldstrafe von vier Dinar und achthundert Millimes bestraft: Erstens: Personen, die die Beschlüsse und Entscheidungen eines Spruchkörpers nicht einhalten.“

Unter anderem entschied der Kassationsgerichtshof in der Rechtssache Nr. 7323 vom 24. November 1982, dass „Artikel 315 ein allgemeiner Text ist, der sowohl Verwaltungs- als auch Gerichtsentscheidungen ohne Präferenz betrifft.“ Die Gerichte haben diese Auslegung jedoch nicht weiterverfolgt, weil sie am Grundsatz der Rechtmäßigkeit von Strafen festhalten.

Behelfslösungen oder tiefergreifende Lösungen

Die Nichtumsetzung von Gerichtsurteilen und insbesondere der Urteile des Verwaltungsgerichts ist einer der Gründe für den Verlust des Vertrauens der Bürgerinnen und Bürger in staatliche Institutionen. Daher sah sich der Staat in der Pflicht, Lösungen für das Dilemma des „Ungehorsams der Verwaltung“ zu suchen (2.2), zumal einvernehmliche und gütliche Lösungen gescheitert sind (2.1).

2.1 Schlichtung und Mediation

Die Institution für Verwaltungsvermittlung wurde durch das Gesetz Nr. 51 vom 3. Mai 19937 gegründet, sie ist eine öffentliche Einrichtung mit administrativem Charakter, die eine eigene Rechtspersönlichkeit besitzt und finanzielle Unabhängigkeit genießt. Sie arbeitet unabhängig und ist zudem mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet, um im Sinne der Bürgerinnen und Bürger in die Verwaltung und alle Strukturen einzugreifen, die mit der Führung eines öffentlichen Amtes beauftragt sind.

Das Dekret Nr. 2143 vom 10. Dezember 19928 hat den sog. „Plan des Verwaltungsvermittlers“ festgelegt. Die Verwaltungsvermittlerin oder der Verwaltungsvermittler hat die Aufgabe, gegen Amtsmissbrauch öffentlicher Einrichtung vorzugehen, gleich, ob es sich dabei um die Anwendung einer Rechtsvorschrift, das Schweigen der Verwaltung oder die Verzögerung bei der Beantwortung von Beschwerden handelt. Ferner kann sie oder er vorbeugend intervenieren, um Lösungen für Beschwerden der Bürgerinnen und Bürger über den Umgang der Verwaltung mit ihnen zu finden und Streitigkeiten sowie kostspielige und umständliche Gerichtsverfahren zu vermeiden.

Wer jedoch die Jahresberichte des Verwaltungsvermittlers aufmerksam liest, stellt fest, dass nur in einem geringen Prozentsatz der Fälle der Streit beigelegt werden konnte. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass das Verwaltungsgericht selbst seit dem Beschluss Nr. 3698 von 2008 über die Ergänzung des Beschlusses Nr. 2173 vom 24. Dezember 1990 über das Generalsekretariat des Verwaltungsgerichts9 dafür zuständig ist, die Rolle der Vermittlerin oder des Vermittlers zwischen der oder dem Rechtssuchenden und der Verwaltung einzunehmen. Es ermöglicht Rechtssuchenden, sich über Probleme bei der Umsetzung von Beschlüssen bei einer Beratungsabteilung zu beschweren, die mit der Vorbereitung und Weiterverfolgung der Akten für die Umsetzung von Urteilen und Entscheidungen beauftragt ist.

Sie vermittelt zwischen der Verwaltung und den Rechtssuchenden und interveniert, um die Behörde zur Umsetzung der Gerichtsentscheidung zu drängen. Die Verwaltung reagiert jedoch nur selten auf die Bemühungen, auch wenn am 10. Mai 2010 ein Rundschreiben des Premierministers veröffentlicht wurde, in dem alle Verwaltungsabteilungen aufgefordert werden, die gegen sie erlassenen Beschlüsse umzusetzen.

2.2 Auf dem Weg zu einer Gesetzesreform

Im Mai 2020 ist eine Gesetzesinitiative zum Gesetzentwurf Nr. 37 von 2020 zur Umsetzung von Verwaltungsgerichtsentscheidungen vorgelegt worden. Dieser Entwurf wird derzeit noch vom Parlamentarischen Ausschuss diskutiert. Zudem hat das Verwaltungsgericht im Juni 2020 einen neuen Entwurf des Verwaltungsgerichtsgesetzes erstellt, der Ende 2020 in Form einer Gesetzesinitiative vorgelegt werden sollte.

Der Gesetzesentwurf regelt die Frage der Vollstreckung von Urteilen in den Kapiteln 284 bis 293. Hierzu gehört die in Artikel 293 vorgesehene Schaffung eines nationalen Ausschusses zur Verfolgung der Umsetzung von Verwaltungsentscheidungen am Obersten Verwaltungsgericht.

Darüber hinaus sieht Artikel 290 dieses Gesetzentwurfes vor, dass die Leiterin oder der Leiter der Verwaltung, die das Urteil absichtlich nicht umgesetzt hat, die zivil- und strafrechtliche Verantwortung hierfür trägt und vor der Justiz zur Rechenschaft gezogen werden kann.

Zudem erkennt das Gesetz in Artikel 288 die Möglichkeit an, bei Verzögerung der Umsetzung eines Urteils gegen die Verwaltung für jeden Tag eine Geldbuße zu verhängen. Artikel 291 des Gesetzentwurfs wertet die Verweigerung, Urteile umzusetzen, als Amtsfehler im Sinne des Rechnungshofgesetzes, über den Rechenschaft abgelegt werden muss.

Neben dem Fehlen einer gesetzgeberischen Umsetzung des Verfassungsgrundsatzes, dass gerichtliche Entscheidungen umzusetzen sind und ihre Umsetzung nicht ohne rechtlichen Grund behindert werden darf, wird das Problem auch auf eine tradierte Mentalität zurückgeführt, sich zu weigern, Urteilen der Justiz Folge zu leisten. Dabei hindert die Gesetzeslücke die Verwaltung nicht daran, Gerichtsurteile umzusetzen und damit die Rechtsstaatlichkeit zu wahren.

1 Zweiter Kalif des islamischen Reichs, Regierungszeit 634–644 n. Chr.
2 Veröffentlicht im Amtsblatt der Tunesischen Republik, Nr. 20 vom 10. März 2017, S. 765-–768.
3 Grundgesetz Nr. 40 vom 1. Juni 1972, veröffentlicht im Amtsblatt der Republik Tunesien, 115, Nr. 23, vom 6. Juni 1972, S. 788-794.
4 Vgl. die am 29. Januar 1993 und am 24. Juli 1995 erlassenen französischen Gesetze.
5 S. das französische Gesetz Nr. 539/1980 vom 16. Juli 1980 über die Vollstreckung von Urteilen gegen Personen des öffentlichen Rechts und die Androhung von Geldbußen im Verwaltungsbereich.

6 Erlassen gemäß Gesetz Nr. 23 vom 24. Juli 1968 über die Neuordnung der im Amtsblatt der Republik Tunesien veröffentlichten Strafprozessordnung unter der Nr. 31 vom 26. und 30. Juli 1968.
7 Veröffentlicht im Amtsblatt der Republik Tunesien, 136, Nr. 35, 11. Mai 1993, S. 633.
8Veröffentlicht im Amtsblatt der Republik Tunesien, 135, Nr. 84 vom 18. Dezember 1992, S. 1599.
9 Veröffentlicht im Amtsblatt der Republik Tunesien, Nr. 99 vom 9. Dezember 2008, S. 4091.