Stefan Schlotter ist als Staatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main tätig und als Experte in den Bereichen Strafrecht, Strafprozessrecht und Strafvollzug in zahlreichen Projekten der IRZ e.V. aktiv. Sein Beitrag ist eine Zusammenfassung seines Vortrags einer Online-eranstaltung vom 20. Mai 2020.
Zeiten, in denen zur Eindämmung einer infektiösen Krankheit persönliche Kontakte auf ein Minimum reduziert werden, stellen besondere Anforderungen an eine Justiz, die seit je, jenseits von allen „greifbaren“ Beweismitteln, vom persönlichen Austausch und vor allem dem persönlichen Eindruck lebt und diesen zur erfolgreichen Bewältigung ihrer Aufgaben benötigt.
Allgemein hat sich die Auffassung herausgebildet, dass „COVID-19“ einen deutlichen Digitalisierungsschub bewirken wird. Dieser Digitalisierungsschub, soviel wird man feststellen können, wird und muss auch die Justiz erfassen, und zwar die eines jeden Landes.
Die globale Herausforderung von COVID-19 stellt alle Jurisdiktionen vor dieselben Herausforderungen, ihre Aufgaben auch in Zeiten der Quarantäne und unter Wahrung „sozialer Distanz“ zu erfüllen. So allgemein die Herausforderung, so klar die Ziele (Aufrechterhaltung eines allgemeinen Zugangs zur Justiz und schneller Verfahren), so speziell sind jedoch die Antworten, die die jeweiligen Gerichtsbarkeiten für sich entwickeln müssen. Sie sind nicht nur davon abhängig, wie fortgeschritten die „Digitalisierung“ des jeweiligen Systems bereits vor „COVID-19“ war, sondern auch von dem konkreten Grad der Einschränkungen der Sozialkontakte, die COVID-19 im jeweiligen Staat erfordert.
Diese spezielle Lage, die wie ein Brennglas verschiedene allgemeine Entwicklungslinien fokussiert, macht einen Austausch verschiedener Erfahrungen in genau diesem Moment spannend und fruchtbar und regt zu einer Bestandaufnahme an.
Diese ergab bei der Diskussion am 20. Mai 2020 ein überraschend einstimmiges Ergebnis: Während die Möglichkeit, Gerichtsverfahren auf elektronischem Wege einzuleiten und Dokumente auch elektronisch einzureichen in Tunesien wie in der Bundesrepublik Deutschland mittlerweile fest etabliert sind, sind die Möglichkeiten, die weiteren Etappen juristischer Entscheidungsfindung digital abzubilden (etwa in der Hauptverhandlung in Strafsachen und der mündlichen Verhandlung in Zivil- und Verwaltungssachen) noch sehr rudimentär:
Zu leicht wäre es, diese Schwierigkeiten allein der traditionellen Verhaftung der Justiz in einem analogen, Tinte und Papier verbundenen Zeitalter, und eine ebenso traditionelle Erwartungshaltung der Rechtssuchenden, die ihre Sache „vor Gericht“ austragen wollen, zuzurechnen. Auch die allgemein begründeten Anforderungen an die Justiz, die Öffentlichkeit der für die Entscheidung wesentlichen Prozesse ebenso verlangt wie eine sichere, nicht von außen manipulierbare Dokumentation des Verfahrensgangs, setzen einer allgemeinen Digitalisierung der Justiz zurzeit noch Grenzen.
Naheliegend ist es daher, sich zunächst und angesichts der Krise darauf zu konzentrieren, im Rahmen des bestehenden Systems die vorhandenen Möglichkeiten der Digitalisierung zu nutzen – von der Nutzung der Videokonferenztechnik für Verhandlungen, die nicht notwendig öffentlich sein müssen, bis hin zum verstärkten Einsatz elektronischer Signaturen und zu einer (trivial, aber auch im Blick auf die Justiz als attraktive Arbeitgeberin nicht zu unterschätzenden) Aufwertung der Arbeit von zuhause. Es wird einem Rückblick mit Abstand zur gegenwärtigen Lage vorbehalten bleiben um festzustellen, welche Akzeptanz eine verstärkte Digitalisierung der Arbeit der Justiz in der Öffentlichkeit findet und welche Bereiche sich weitergehend ohne Qualitätsverlust oder gar mit Gewinn an Effizienz und Schnelligkeit digitalisieren lassen.