Von Prof. Dr. Reinhard Gaier

Verfassungsrechtliche Prüfung anhand des Verhältnismäßigkeitsprinzips

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Prof. Dr. Reinhard Gaier war bis 2016 Richter des Ersten Senats am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Seit Ablauf seiner Amtszeit als Bundesverfassungsrichter ist er als Jurist weiterhin in anwaltliche Tätigkeiten eingebunden.

Einleitung

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – bisweilen auch Übermaßverbot genannt (vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 16. Aufl. (2020), Art. 20 Rn. 112 m.w.N.) – hat im deutschen Verfassungsrecht aufgrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine überragende Bedeutung erlangt.

Das Prinzip richtet sich an jede staatliche Gewalt, also nicht nur an den Gesetzgeber. Seine größte praktische Bedeutung erlangt der Maßstab der Verhältnismäßigkeit allerdings bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit von Eingriffen des Gesetzgebers in Grundrechte seiner Bürgerinnen und Bürger.

Entstehen und Entwicklung des Verhältnismäßigkeitsprinzips

Das Bundesverfassungsgericht konnte bei der Entwicklung des Verhältnismäßigkeitsprinzips für das Verfassungsrecht auf bereits vorliegende Rechtsprechung der Verwal-tungsgerichte zurückgreifen und diese – über die bereits bekannten Kategorien der Eignung und der Erforderlichkeit hinaus – um den dritten Prüfungsschritt der „Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne“ ergänzen (vgl. Schlick, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001, Bd. II, S. 445 f.).

Der Beginn der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Verhältnismä-ßigkeitsgrundsatz reicht mehr als 60 Jahre zurück. Als Ausgangspunkt gilt das „Apotheken-Urteil“ vom 11. Juni 1958 (BVerfGE 7, 377). Aber erst an anderer Stelle nennt das Gericht als dogmatische Grundlage dieses Prinzips das „Wesen der Grundrechte selbst“ (BVerfGE 76, 1, 50 f. m.w.N.). Dieser Ansatz vermag zu überzeugen: Da der Staat zwar nach Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte gebunden ist, gleichwohl aber Eingriffe in Grundrechte aufgrund eines Vorbehalts oder jedenfalls bei kollidierendem Verfassungsrecht zulässig sind, darf er nicht mit der einen Hand nehmen, was er mit der anderen Hand gibt; notwendig sind daher substantielle Anforderungen an die Rechtmäßigkeit des Eingriffs, damit der Staat nicht beliebig in Grundrechte eingreifen und die Rechte seiner Bürgerinnen und Bürger leer laufen lassen kann (vgl. Schlick, aaO., S. 448).

Grundlagen der Verhältnismäßigkeitsprüfung bei Grundrechtseingriffen

Das Bundesverfassungsgericht formuliert den Grundsatz üblicherweise dahin, dass Eingriffe in die vom Grundgesetz garantierte Freiheitssphäre der Einzelnen nur dann und nur insoweit zulässig sind, als dies zum Schutz öffentlicher Interessen unerlässlich ist. Die hierzu gewählten Mittel müssen daher geeignet und erforderlich sein, um den erstrebten Zweck zu erreichen; darüber hinaus muss aber auch das Maß der die Einzelnen treffenden Belastung noch in einem vernünftigen Verhältnis zu den der Allgemeinheit erwachsenden Vorteilen stehen (so etwa BVerfGE 76, 1, 50 f. m.w.N.). Prägnanter ist die Kurzformel, nach der ein Grundrechtseingriff einem legitimen Zweck dienen und als Mittel zu diesem Zweck geeignet, erforderlich und angemessen sein muss (so etwa BVerfGE 118, 168, 193 m.w.N.).

Daraus lassen sich die Voraussetzungen der Verhältnismäßigkeit destillieren, nämlich nach Feststellung eines legitimen Zwecks, (1.) Eignung und (2.) Erforderlichkeit des Eingriffs sowie (3.) die Angemessenheit oder Zumutbarkeit des Eingriffs, also die „Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne“.

Die Voraussetzungen der Verhältnismäßigkeit im Einzelnen

a) Legitimer Zweck

Erster Prüfungsschritt ist die Feststellung des Zwecks oder des Ziels, das der Gesetz-geber mit der konkreten gesetzlichen Regelung verfolgt. Damit wird die Basis für die folgenden drei Prüfungsschritte geschaffen; Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit beziehen sich immer auf den Zweck, der mit einer Regelung verfolgt werden soll (vgl. Ja-rass, in: Jarass/Pieroth, aaO., Art. 20 Rn. 116).

Den Zweck, den eine gesetzliche Regelung verfolgt, ermittelt das Bundesverfassungsgericht eigenständig im Wege der Auslegung der Norm. Naheliegend ist hierbei zunächst der Rückgriff auf die Gesetzesmaterialien (vgl. etwa BVerfGE 117, 163, 182), aber auch alle weiteren Auslegungsmethoden, wie etwa Wortlaut und Gesetzessystematik, kommen in Betracht. Wie immer im deutschen Rechtssystem sind nicht subjektive Vorstellungen entscheidend, maßgeblich ist vielmehr der objektivierte Wille des Gesetzgebers (vgl. BVerfGE 119, 96, 179 m.w.N.).

Die Wahl des verfolgten Zwecks bleibt zunächst dem Gesetzgeber überlassen; hier geht es um politische Gestaltung, die im System der Gewaltenteilung keine Befugnis der Rechtsprechung ist. Allerdings endet die „Freiheit“ des Gesetzgebers an den Grenzen, die ihm die Verfassung setzt. In diesem Sinne muss das verfolgte Ziel ein „legitimer Zweck“ sein. Legitim ist daher jedes öffentliche Interesse, das verfassungsrechtlich nicht ausgeschlossen ist (BVerfGE 124, 300, 331).

b) Eignung

Ist ein legitimer Zweck festgestellt, so ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob das gewählte Mittel – also der Eingriff in das Grundrecht – geeignet ist, um dieses Ziel zu erreichen. Ein Optimierungsgebot besteht nicht (BVerfGE 113, 167, 234); der Gesetzesgeber muss nicht das am besten geeignete, sondern nur ein geeignetes Mittel gewählt haben.

Bei Prüfung der Geeignetheit ist die Rechtsprechung großzügig. Zwar genügt es für die Eignung (oder gleichbedeutend „Geeignetheit“ oder auch „Zwecktauglichkeit“) nicht, dass irgendein öffentliches Interesse verwirklicht werden kann; es geht immer nur um die Eignung für den Zweck, der im konkreten Fall festgestellt wurde (vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth, aaO., Art. 20 Rn. 118). Für die Eignung ist es allerdings nicht erforderlich, dass sich der verfolgte Zweck auch erreichen lässt; es genügt vielmehr schon die abstrakte Möglichkeit der Zweckerreichung (BVerfGE 100, 313, 373). Hierzu muss das gewählte Mittel auch nur einen Beitrag leisten (vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth, aaO., Art. 20 Rn. 118), das Erreichen des angestrebten Ziels muss lediglich gefördert werden (so etwa BVerfGE 117, 163, 188).

Außerdem wird dem Gesetzgeber ein „Prognosespielraum“ zugestanden. Für die Beurteilung der Eignung ist immer auf die Verhältnisse abzustellen, die zum Zeitpunkt des Erlasses des Gesetzes bestanden; auch der Gesetzgeber kann die Zukunft nicht sicher einschätzen. Eine gesetzliche Regelung kann daher nicht schon deshalb verfassungswidrig sein, weil sie auf einer Prognose beruhte, die sich später als unrichtig herausstellt. Für die Eignung einer Maßnahme reicht es daher aus, dass sie auf einer sachgerechten und vertretbaren Prognose beruhte (BVerfGE 113, 167, 234 m.w.N.).

c) Erforderlichkeit

Mit der Erforderlichkeit werden Eingriffe in Grundrechte auf das mildeste Mittel be-schränkt. Eingriffe in Grundrechte dürfen nicht weiter gehen, als die rechtfertigenden Gemeinwohlbelange es erfordern (BVerfGE 106, 216, 219; 117, 163, 189). Daher ist der konkrete Eingriff in ein Grundrecht nur dann erforderlich, wenn ein anderes, gleich wirksames, aber das Grundrecht weniger einschränkendes Mittel nicht zur Verfügung steht (BVerfGE 80, 1, 30; 117, 163, 189). Auch hier lässt die Rechtsprechung dem Gesetzgeber beträchtliche Spielräume, um die Möglichkeiten politischer Gestaltung nicht zu sehr zu beschränken. So muss die gleiche Wirksamkeit des alternativen Mittels nicht nur möglich, sondern eindeutig festgestellt sein (BVerfGE 81, 70, 91). Ein milderes Mittel liegt auch dann nicht vor, wenn es Dritte oder die Allgemeinheit stärker belastet (BVerfGE 113, 167, 259) und etwa für den Staat zu unangemessenen Mehrkosten führt (vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth, aaO., Art. 20 Rn. 119).

Zudem wird dem Gesetzgeber auch bei der Beurteilung der Erforderlichkeit einer Maßnahme ein weiter Prognosespielraum zugebilligt, der vom Bundesverfassungsgericht nur in begrenztem Umfang überprüft werden kann. Besonders wichtig ist das für die Einschätzung von Gefahren, die der Allgemeinheit drohen, und bei der Beurteilung der Erforderlichkeit der Maßnahmen, die der Verhütung und Bewältigung dieser Gefahren dienen sollen (BVerfGE 117, 163, 189). Hier ist der Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers erst dann überschritten, wenn die Erwägungen des Gesetzgebers so fehlsam sind, dass sie vernünftigerweise keine Grundlage für Maßnahmen zur Gefahrenabwehr sein können (BVerfGE 110, 141, 157 f. m.w.N).

d) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne

Den letzten Prüfungsschritt bildet die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, vom Bundesverfassungsgericht auch Angemessenheit oder Zumutbarkeit genannt (vgl. etwa BVerfGE 117, 163, 192 f.). Andere Bezeichnungen sind Übermaßverbot, Proportionalität (vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth, aaO., Art. 20 Rn. 120) oder Mittel-Zweck-Relation. In der Praxis des Bundesverfassungsgerichts ist bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der letzte Schritt der wichtigste; wenn Gesetze am Verhältnismäßigkeitsprinzip scheitern, dann ist im Regelfall die Unzumutbarkeit der Grund, kaum aber jemals fehlende Eignung oder fehlende Erforderlichkeit.

Geprüft wird an dieser Stelle, ob der Eingriff in das betroffene Grundrecht in einem angemessenen Verhältnis zu dem Gewicht und zur Bedeutung dieses Grundrechts steht (vgl. BVerfGE 67, 157, 173; 96, 10, 23). In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts finden sich hierfür unterschiedliche Formeln (vgl. dazu Jarass, in: Jarass/Pieroth, aaO., Art. 20 Rn. 120; Hillgruber, in: Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl. (2011), Bd. IX, § 201 Rn. 72 jeweils m.w.N.). Eine stellt die Zumutbarkeit in den Vordergrund und fordert, dass bei „einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe ... die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt bleiben“ muss (so etwa BVerfGE 113, 167, 260; 120, 224, 241). Andere betonen die Verhältnismäßigkeit und verlangen, dass „das Maß der den Einzelnen treffenden Belastung noch in einem vernünftigen Verhältnis zu den der Allgemeinheit erwachsenden Vorteilen“ steht (so etwa BVerfGE 100, 313, 375 f.), oder dass bei einer Gesamtabwägung „die Schwere des Eingriffs ... nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe stehen“ darf (so etwa BVerfGE 118, 168, 195).

Die verschiedenen Formeln setzen unterschiedliche Akzente, führen aber letztlich nicht zu unterschiedlichen Ergebnissen; denn entscheidend ist immer die Gesamtabwägung, bei der Vorteile in der einen Waagschale liegen und die Nachteile in der anderen. Der Gesetzgeber muss einen angemessenen Ausgleich zwischen Allgemein- und Individualinteressen herbeiführen (BVerfGE 113, 348, 382; 124, 43, 62). Hierzu sind zunächst die Vorteile für die Allgemeinheit zu ermitteln, insbesondere die Bedeutung der zu schützenden Rechtsgüter und die Intensität und Wahrscheinlichkeit ihrer Gefährdung (vgl. BVerfGE 113, 348, 382). Dem sind die Nachteile für die einzelnen Grundrechtsträgerinnen und Grundrechtsträger gegenüber zu stellen, insbesondere die Anzahl der Betroffenen und das Gewicht der für sie entstehenden Grundrechtsbeeinträchtigung (vgl. BVerfGE 113, 348, 382). Danach ist zwischen Vorteilen und Nachteilen abzuwägen (vgl. dazu Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, aaO., Art. 20 Rn. 121a m.w.N.), wobei mit der Schwere des Grundrechtseingriffs auch das Gewicht der Ziele steigen muss, die den durch den Eingriff erreicht werden sollen (BVerfGE 118, 168, 195).