Stefan Schlotter ist als Staatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main tätig und als Experte in den Bereichen Strafrecht, Strafprozessrecht und Strafvollzug in zahlreichen Projekten der IRZ e.V. aktiv. Sein Beitrag ist eine Zusammenfassung seines Vortrags einer Onlineveranstaltung vom 20. Mai 2020.
Ungeachtet aller Unterschiede im Einzelnen stellt die aktuelle Infektionskrise die Strafjustiz in Tunesien wie in der Bundesrepublik Deutschland vor ähnlich strukturierte Probleme: sie muss sich nicht nur mit erschwerten oder geänderten Abläufen im eigenen Betrieb auseinandersetzen, die beispielsweise zu einer verstärkten Digitalisierung drängen, sondern sieht sich auch neuen Formen der Delinquenz gegenüber, die aus der Krise heraus entstehen.
Zum einen nutzen Kriminelle die Möglichkeiten, die die Krise bietet, um in angepasster Weise Delikte allgemeiner Art zu begehen. Wie in allen Situationen, in denen die öffentliche Hand und private Stellen kurzer Hand schnelle Beschaffungsentscheidungen treffen müssen, schlägt auch in der COVID-19-Krise die Stunde von Betrügerinnen und Betrügern, die mehr versprechen, als sie zu liefern imstande sind, und diejenigen, die sich einen Teil der aufgrund der drängenden Lage oft ohne die übliche Prüfung freihändig vergebenen Aufträge durch Bestechung sichern wollen. Dabei spielen den Kriminellen Zeitdruck und unklare Zuständigkeiten Seitens der Auftraggeber (Bund und Länder - Anm. d. Red.) stark in die Hände. Gleiches gilt für die – bewusst! - großzügig bemessenen und „unbürokratisch“ verteilten Hilfen unterschiedlichster Art, die magisch auch Nicht-Bedürftige anziehen, die sich diese Mittel durch Vorspiegelung falscher Tatsachen verschaffen wollen. Es lassen sich die Arten, auf die altbekannte Deliktstypen der neuen Situation angepasst werden, unendlich durchdeklinieren: selbst der altbekannte „Enkel-Trick“ findet seine aktuelle Form in der angeblich „im Ausland schwer an COVID-19 erkrankten“ angeblichen Verwandten, die um Geldhilfe der meist sehr betagten älteren Opfer bitten, da sie ihre Behandlungskosten bezahlen müssen.
Daneben führen die verschärften Regelungen, die Tunesien wie Deutschland zur Eindämmung der Infektion beschlossen haben, zu weiteren, neuen Formen der Kriminalität, indem bislang sozialadäquate Verhaltensweisen als Verstoß gegen seuchenpolizeiliche Vorschriften (Infektionsschutzgesetzgebung) auf einmal pönalisiert werden. Hier stellt sich der Strafverfolgung nicht nur das Problem der Feststellung und Ermittlung der (potentiell) sehr zahlreichen Verstöße. Sie kann auch nicht notwendig mit einem großen Rückhalt der Bevölkerung bei der Verfolgung rechnen. Her hängt die Akzeptanz und damit die Effektivität der Strafverfolgung wesentlich von der Akzeptanz der durch die Strafnormen geschützten Verhaltensvorschriften ab. Diese wiederum sind – wie unter dem Gesichtspunkt des Verfassungsrechtes diskutiert wurde – ihrerseits abhängig von dem wechselnden Stand der Wissenschaft und als solche nicht aus sich heraus und unmittelbar anschlussfähig.
So unterschiedlich diese Verhaltensnormen in Tunesien und der Bundesrepublik Deutschland im Einzelnen auch ausgestaltet sind, die effektive und breit akzeptierte Verfolgung von Verstößen gegen die spezifischen COVID-19-Regelungen bedarf einer Politik, die die entsprechenden Regelungen und deren Änderungen transparent erklärt und ihre Ziele unmittelbar einsichtig vermittelt. Dass diese Vermittlung bislang in der Bundesrepublik Deutschland gelang, ist Grund dafür, dass die deutschen Staatsanwaltschaften in relativ wenigen Fällen gegen Verstöße einschreiten mussten.