Prof. Dr. Michaela Wittinger ist Professorin für Öffentliches Recht (insbesondere Staats- und Europarecht) an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Mannheim sowie als Expertin für Staats-, Verfassungs- und Europarecht im Auftrag der IRZ e.V. zur Unterstützung der Rechtsreformen in Transformationsstaaten tätig. Ihr Beitrag ist eine Zusammenfassung ihres Vortrags im Rahmen einer Online-Veranstaltung vom 20. Mai 2020 entstanden.
Staatliches Handeln in COVID-19-Krisenzeiten wirft verfassungsrechtlich vielfältige Fragestellungen auf: Ist es zulässig, dass die Exekutive – Bundesministerien und Landesregierungen bzw. Landesministerien – ermächtigt werden, durch COVID-19-Rechtsverordnungen und darauf basierenden Maßnahmen weitreichend in die Grundrechte einzugreifen?
Gibt es ein Grundrecht auf Leben und ein Grundrecht auf Gesundheit im Sinne von „Supergrundrechten“? Welche Anforderungen stellt die Verhältnismäßigkeit an das staatliche Handeln? Dies soll im Folgenden beleuchtet werden. Dabei finden sich Antworten nicht zuletzt in der bisherigen verwaltungs- und verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, die in einem Überblick analysiert wird.1
I. Ausgangslage: Kurzüberblick
Ab Ende Februar 2020 erhöhten sich in Deutschland die Infektionszahlen und ein Krisenstab des Bundes wurde daraufhin eingesetzt. Er stellte nach und nach einen Mangel an Intensivbetten, Beatmungsgeräten, Schutzausrüstungen und Masken fest.2
Wichtigster Berater der Regierung in der Pandemie wurde das Robert Koch-Institut als nationale Behörde zur Verhinderung der Weiterverbreitung von Infektionen; das Institut erhielt zudem eine gesetzlich verbriefte Koordinierungsfunktion und ist zuständig für die Veröffentlichung der Ergebnisse seiner infektionsepidemiologischen Auswertungen.3 Vom 10. März 2020 an wurden etliche Maßnahmen ergriffen, die zum „Shutdown“ führten: Schließung der Grenzen (mit Ausnahme zu den Niederlanden), Schließung der Kindertagesstätten, Kindergärten, Schulen4 (unter Beibehaltung einer Notbetreuung) und von Hochschulen, Schließung von Geschäften5 (außer u.a. Lebensmittelläden), Restaurants und von öffentlichen Einrichtungen sowie die Verhängung von Ausgangsbeschränkungen, mit unterschiedlichem Ausmaß in den einzelnen Bundesländern (u.a. Verlassen der Wohnung nur aus „triftigem Grund“ oder erlaubte Treffen mit einer Person außerhalb des eigenen Haushalts).6 Außerdem wurden Besuche in Altersheimen und Krankenhäusern verboten.7
Ab Mitte Mai begannen die Lockerungsmaßnahmen8 mit zunächst u.a. der Öffnung von Geschäften bis 800 m², dann einer Maskenpflicht in Geschäften und im öffentlichen Nahverkehr, unter Beibehaltung der Kontaktbeschränkungen zunächst bzw. deren Lockerungen (z.B. Treffen von zwei Familien erlaubt), unter Einhaltung insgesamt der Hygiene- und Abstandsvorschriften. Ab 6. Mai endete das bis dahin weitgehend gemeinsame Vorgehen von Bundesregierung und Bundesländern: Es wurde die Zuständigkeit jedes Bundeslandes und der jeweiligen lokalen Gesundheitsämter für die Beobachtung der Entwicklung der Infektionszahlen bekräftigt, die Verantwortung, im jeweiligen Bundesland Entscheidungen zur Lockerung zu treffen und eine gemeinsame Höchstzahl festgelegt von 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohnerinnen und Einwohnern innerhalb von je sieben Tagen; bei deren Überschreitung sollen die Bundesländer eindämmende Maßnahmen ergreifen und Lockerungen zurücknehmen können.
II. Verfassungsrechtliche Fragestellungen
Welche Anforderungen stellt das Verfassungsrecht an diese staatlichen Maßnahmen im Rahmen der COVID-19-Pandemie? Aus verfassungsrechtlicher Sicht stellen sich z.B. zu Ausgangsbeschränkungen und Geschäftsschließungen bzw. der Lockerung dieser Maßnahmen vorrangig drei entscheidende Fragen:
- Wurde eine zu große Delegation an die Regierungen/Exekutive (Bundesministerien und Landesregierungen bzw. Landesministerien) durch den parlamentarischen Bundesgesetzgeber vorgenommen?
- Wie sind die Einschränkungen der Grund- und Menschenrechte zu beurteilen? Gibt es dabei einen oft vorgebrachten „vorrangigen“ Schutz des Rechts auf Gesundheit und des Rechts auf Leben?
- Sind/waren die grundrechtseinschränkenden Maßnahmen verhältnismäßig?
2. Delegation an die Exekutive
Zu den Grundfesten der Demokratie gehört die Bedeutung des Parlaments. Dies äußert sich in der Figur des Parlamentsvorbehalts und der vom Bundesverfassungsgericht in seiner ständigen Rechtsprechung entwickelten "Wesentlichkeitslehre": Danach hat der parlamentarische Gesetzgeber alle „wesentlichen Entscheidungen“, vor allem solche, die den Freiheits- und Gleichheitsbereich des Bürgers betreffen, selbst zu regeln.9 Dies hat Auswirkungen für die Exekutive/Verwaltung: Denn der Vorbehalt bedeutet, dass "wesentliche" Fragen nicht die Exekutive entscheiden darf, sondern dass diese vom Gesetzgeber entschieden werden müssen. Zugleich lässt Art. 80 Abs. 1 GG zu, dass der parlamentarische Gesetzgeber Bundes- und Landesregierungen ermächtigt, Rechtsverordnungen, also untergesetzliche Rechtsnormen, zu erlassen. Dazu muss er Inhalt, Umfang und Zweck der er-teilten Ermächtigung bestimmen (Art. 80 Abs. 1 Satz GG). Im Hinblick auf die COVID-19-Krise spielt hier das Infektionsschutzgesetz (IfSG), das zuletzt am 27.03.2020 novelliert wurde, eine entscheidende Rolle, vor allem dessen § 5. Die Vereinbarkeit dieser Vorschrift mit Art. 80 Abs. 1 GG ist verfassungsrechtlich mehr als fraglich, laut wissenschaftlichem Dienst des Bundestages, sogar „erheblich problematisch“.10 Denn durch § 5 IfSG wird das Bundesministerium für Gesundheit umfangreich ermächtigt, Rechtsverordnungen zu erlassen und dabei von Parlamentsgesetzen (z.B.: Apothekengesetz, Arzneimittelgesetz, Betäubungsmittelgesetz) abzuweichen.11
Dies könnte eine unzulässige Abweichung vom Parlamentsvorbehalt darstellen. Solche Abweichungen sind nur sehr beschränkt zulässig, um eine Machtverschiebung zwischen legislativer und exekutiver Gewalt vorzubeugen. Sinn und Zweck von Art. 80 Abs. 1 GG liegen insbesondere darin, sicherzustellen, dass die gesetzgebende Staatsgewalt tatsächlich innerhalb der Parlamente bleibt und die Gesetzgebungsmacht nicht auf die Exekutive übertragen wird.12 Daher müssen die Ermächtigungsgrundlage nach der Verfassungsrechtsprechung den Ermächtigungsadressaten enthalten, hinreichend bestimmt sein, die Einschränkungen für die Bürgerin und den Bürger vorhersehbar sein und erkennbar sein, was geregelt werden soll.13 Nach § 5 Abs. 2 Nr. 3 IfSG können aber Rechtsverordnungen erlassen werden, die Ausnahmen von den bestehenden Regelungen des IfSG schaffen, um die „Abläufe im Gesundheitswesen“ aufrecht zu erhalten. Dabei bleibt offen, von welchen Vorschriften abgewichen werden kann, sowohl die Einhaltung des Bestimmtheits- als auch das Vorhersehbarkeitsgebot sind also fraglich.
Aufgrund der wenigen konkreten Angaben erscheint die Vorschrift als Ermächtigungsnorm zu weitgehend und nicht mit Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG vereinbar.14 Es könnte zugunsten der umfangreichen Kompetenzübertragung argumentiert werden, dass der Pandemie-Sachverhalt sehr komplex ist und sich schnell ändert. Zudem sind die Befugnisse der Exekutive bis zum 31.03.2021 befristet worden (§ 5 Abs. 4 IfSG). Allerdings steigen mit zunehmender Intensität der Grundrechtseingriffe auch die Anforderungen an die Konkretisierung des Gesetzes, daher bleiben Vorbehalte zur Verfassungsmäßigkeit. In § 5 Abs. 2 Nr. 4 IfSG hingegen sind die Vorschriften, von denen abgewichen werden kann, durch eine thematische Eingrenzung enger gefasst. Wie oben schon genannt, werden aber etliche Abweichungen von Parlamentsgesetzen, wie dem strafbewehrten Betäubungsmittelgesetz, zugelassen. Auch § 5 Abs. 2 Nr. 8 IfSG ermächtigt zu Ausnahmen von Vorschriften, die die pflegerische Versorgung in ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen „in Abweichung von bestehenden gesetzlichen Vorgaben“ betreffen sowie von SGB XI. Eine Delegation an die Exekutive, die mit Blick auf das hier betroffene Grundrecht auf Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) sehr fragwürdig ist.
Im Übrigen ist insgesamt auch der föderale Aspekt zu beachten; das IfSG sieht Rechtsverordnungen überwiegend mit Zustimmung des Bundesrates vor, aber auch ohne. Der Zustimmungsvorbehalt zugunsten des Bundesrates ist gemäß Art. 80 Abs. 2 GG erforderlich, wenn die Länder die Gesetze im Auftrag des Bundes oder als eigene Angelegenheit ausführen. Von diesem Erfordernis kann nicht durch den einfachen Gesetzgeber abgewichen werden, daher sind die betreffenden Regelungen des IfSG, die Rechtsverordnungen ohne Bundesratsbeteiligung vorsehen, wie es auch der wissenschaftliche Dienst des Bundestages bewertet, verfassungsrechtlich äußerst bedenklich.15
2. Einschränkungen der Grund- und Menschenrechte und Bedeutung des Grundrechts auf Leben und auf Gesundheit
Zur Frage, wie die Eingriffe in die Grund- und Menschenrechte zu beurteilen sind, ist zunächst zu unterstreichen, dass es sich bei den durch die Rechtsverordnungen der Länder ergriffenen, unter 1. im Überblick dargestellten, COVID-19-Maßnahmen um exekutives Handeln handelte und immer noch handelt, das eine Vielzahl von Grund- und Menschenrechten betrifft und betraf. Das IfSG listet in § 32 als Grundrechte, die eingeschränkt werden können, die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG), die Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG), die Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG) und das Brief- und Postgeheimnis (Art. 10 GG) auf. Durch die COVID-19-Maßnahmen sind weiter betroffen: die Berufsfreiheit (Art. 12 GG), die Religions-freiheit (Art. 4 Abs. 1, 2 GG), das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) und das Gleichheitsprinzip (Art. 3 GG); damit stellt sich (außer im Hinblick auf Art. 2 Abs. 1 GG) auch noch die Frage der Einhaltung des Zitiergebots (Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG) im IfSG. In diese Grundrechte wurde durch die oben skizierten Maßnahmen in unterschiedlichem Umfang eingegrif-fen. Dabei ist vorab festzuhalten, dass das Grundgesetz keine Möglichkeit vorsieht, Grundrechte - und sei es für eine bestimmte Zeit - generell zu suspendieren, noch nicht einmal im Fall eines militärischen Angriffs/Krieges oder auch eines Terrorangriffs, da das Grundgesetz - anders als andere Verfassungen16 - historisch bedingt bewusst keine Notstandsklausel kennt, die die Außerkraftset-zung von Grundrechten selbst in solch einer Notlage zuließe.17
Die COVID-19-Maßnahmen insgesamt wurden von staatlicher Seite mit dem „vorrangigen“ Recht auf Gesundheit und dem Recht auf Leben gerechtfertigt.18 Dabei wurde meist eine Art „absoluter“ und „im Vordergrund stehender“ Schutz des Rechts auf Gesundheit und des Rechts auf Leben ange-führt. Richtig ist, dass der Gesundheits- und Lebensschutz für jedes menschliche Leben gilt und nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (geborenes) Leben nicht gegen Leben abgewogen werden darf.19 Ferner trifft auch zu, dass es sich bei Gesundheit und Leben um Grundrechte mit Gewicht handelt, deren Schutz den Staat zu Gefahrenvorsorge berechtigt und auch verpflichtet. Eingriffe in Rechte anderer durch die staatliche Schutzpflicht müssen aber verhältnismäßig sein 20; nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bildet das Leben zudem zwar einen Höchstwert21 als Abwehrrecht gegenüber dem Staat, ohne dass ihm jedoch immer ein Vorrang zukäme.22 Der Lebens- und der Gesundheitsschutz sind also keine „Supergrundrechte“ 23; die Grund- und Menschenrechte des Grundgesetzes stehen nicht in einer Hierarchie , sondern sind grundsätzlich gleichrangig. Erst durch die entsprechenden Äußerungen von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble24 wurde in der öffentlichen Debatte dieser Aspekt zumindest diskutiert.
3. Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseinschränkungen
Im Kontext des Grundrechtsschutzes stellt sich schließlich insbesondere die Frage, ob die Maßnahmen verhältnismäßig sind und waren. Dieses Prinzip der Verhältnismäßigkeit, das Teil des Rechtsstaatsgedankens (Art. 20 Abs. 3 GG) ist, bedeutet, dass der Rechtsstaat abgewogen handeln muss und den Bürger nur soweit, wie unbedingt nötig, in seinen Rechten beeinträchtigen darf. Alles staatliche Handeln unterfällt diesem Filter der Verhältnismäßigkeit. Die Verhältnismäßigkeit beschreibt eine Zweck-Mittel-Relation; danach muss der Staat einen legitimen Zweck verfolgen. Sein Handeln muss geeignet sein, um den angestrebten Erfolg zu erreichen. Sein Handeln muss ferner erforderlich sein, d.h. es muss von mehreren gleichwirksamen Mitteln jenes ausgewählt werden, welches den Einzelnen am wenigstens beeinträchtigt (mildestes Mittel). Und schließlich muss das staatliche Handeln insgesamt angemessen sein, d.h. es darf kein Nachteil für die Bürgerin oder den Bürger entstehen, die oder der erkennbar außer Verhältnis zum angestrebten Erfolg steht; hierzu ist eine umfassende Güterabwägung vorzunehmen. Mit Ausnahme des legitimen Zwecks, der mit dem Gesundheits- und Lebensschutz gegeben ist, stellen sich zur Geeignetheit, dem milderen Mittel und der Angemessenheit im Hinblick auf die COVID-19-Maßnahmen Verhältnismäßigkeitsfragen, etwa ob es mit lokalen Beschränkungen, der Verfolgung von Infektionsketten oder höheren Testkapazitäten nicht alternati-ve und zugleich mildere Mittel gegeben hätte oder gibt. Aufgrund der stetigen Entwicklungen bzw. Veränderungen des Infektionsgeschehens, der Zahlen und Ausgangslagen können sich hier die Einschätzungen zu den einzelnen Punkten entwickeln und je nach Zeitpunkt anders ausfallen. Dies hat sich, wie im Folgenden zu sehen sein wird, deutlich in den einschlägigen Entscheidungen der Rechtsprechung gezeigt.
III. Verwaltungs- und verfassungsrechtliche Rechtsprechung zu COVID-19- Maßnahmen von April bis Mitte Mai 2020 (Überblick)
Es sind von etlichen Oberverwaltungsgerichten, Landesverfassungsgerichten und vom Bundesverfassungsgericht Entscheidungen zu COVID-19-Maßnahmen ergangen. Dabei handelte es sich in der Regel um Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes und dabei überwiegend um einstweilige Anordnungen im Normenkontrollverfahren (Verfahren gegen Landesrechtsverordnungen)25 und um verfassungsrechtlichen vorläufigen Rechtsschutz im Kontext von Verfassungsbeschwerden.26 Aus den Entscheidungen wird deutlich, dass in Verfahren von Anfang bis Mitte April die Anträge keinen Erfolg hatten und die staatlichen Maßnahmen von der Justiz als gerechtfertigt und insbesondere auch als verhältnismäßig bewertet wurden. Den staatlichen Stellen wurde ein weitreichender Einschätzungsspielraum zur Gefahrenprävention zugestanden und die Berufung auf den hochrangigen Gesundheits- und Lebensschutz als zulässig bewertet. So entschied z.B.27 das OVG Greifswald 28, dass Grundrechtseingriffe durch die staatliche Schutzpflicht für die Gesundheit der Bevölkerung und damit den Grundrechten anderer gerechtfertigt sind und die besonders große Wahrscheinlichkeit eines großen Schadenseintrittes im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung entscheidend sind.
In einem weiteren Beschluss entschied das OVG Greifswald ferner 29, dass das infektionsschutzrechtliche Einreiseverbot nicht das Grundrecht auf Freizügigkeit nach Art. 11 Abs. 1 GG beeinträchtigt. Das Bundesverfassungsgericht lehnte Anfang April einen Antrag gegen die bayerische Verordnung über Ausgangsbeschränkungen ab, auch wenn es einräumte, „nicht zu verkennen, dass die angegriffenen Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie die Grundrechte der Menschen, die sich in Bayern aufhalten, erheblich beschränken“.30
Ab Ende April bis Mitte Mai wandelte sich das Bild allerdings und die Antragsstellerinnen und Antragsteller hatten zunehmend Erfolg: So stellte der VGH München31 einen Verstoß der Bayerischen COVID-19-Verordnung gegen Art. 3 Abs. 1 GG im Hinblick auf die unterschiedliche Behandlung von Geschäften im Zuge der Lockerungsmaßnahmen fest. Der VGH Kassel 32 seinerseits forderte, die Vorschriften zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie in Bezug auf die Versammlungsfreiheit so anzuwenden, dass das Grundrecht aus Art. 8 GG nicht bis zur Bedeutungslosigkeit beschnitten wird und hielt fest, dass der Antragssteller trotz der COVID-19-Maßnahmen, wie es Art. 8 GG vorsieht, be-fugt ist, den Ort der Versammlung auszusuchen, sodass die Auflagen der Stadt modifiziert werden mussten.
Der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes33 schließlich setzte die saarländischen Ausgangsbeschränkungsregelung teilweise außer Kraft; er sah das Grundrecht der Freiheit der Person (Art. 3 Abs. 1 Saarländische Verfassung) durch die saarländische Verordnungsregelung, die einen „triftigen Grund“ für das Verlassen der Wohnung forderte, in unverhältnismäßiger Weise be-schränkt. Er unterstrich, je länger intensive Grundrechtseingriffe wirken, desto höher müssen die Anforderungen an ihre Rechtfertigung sein. In die Abwägung der Landesregierung beim Verfassen der Maßnahmen wurde die besondere Lage des Saarlandes mit seiner Grenze zum von COVID-19 schwer betroffenen Frankreich besonderes berücksichtigt, ebenso die hohen Infektionszahlen im Saarland selbst. Der Verfassungsgerichtshof unterstrich, dass außer Bayern die anderen Bundeslän-der keine vergleichbaren Ausgangsbeschränkungen haben, sondern lediglich Kontaktverbote und keine höheren Infektions- und Sterbezahlen, sodass keine Gründe für die Fortdauer der saarländi-schen Regelung bestehen. Der erlittene Grundrechtsverlust sei dagegen ein endgültiger Nachteil, der nicht mehr ausgeglichen werden könne.
Das Bundesverfassungsgericht seinerseits entschied noch am 10. April34, dass das hessische Gottesdienstverbot zwar als „überaus schwerwiegender Eingriff“ in die Glaubensfreiheit zu bewerten und einer fortlaufenden strengen Prüfung seiner Verhältnismäßigkeit anhand der jeweils aktuellen Er-kenntnisse bedürfe, aber gerechtfertigt sei. Am 29. April35 wurde hingegen zur COVID-19-Verordnung Niedersachsens von ihm gefordert, vorläufig Möglichkeiten der Ausnahmen vom Verbot von Got-tesdiensten in Kirchen, Moscheen und Synagogen zuzulassen. Die Bundesverfassungsrichterinnen und Bundesverfassungsrichter sahen es angesichts des vorgelegten Hygienekonzepts einer Moschee, auch mit Blick auf den Ramadan, als angezeigt, eine einzelfallbezogene positive Einschätzung zu den konkreten epidemiologischen Gefahren in der Moschee (z.B. durch Abstände und in Moscheen nicht üblichen Gesang) zu ermöglichen.
Das OVG Lüneburg bewertete Anfang Mai36 im Eilrechtsschutz den Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) durch die obligatorische Maskenpflicht in Geschäften und im Öffentlichen Personennahverkehr allerdings nur als einen Grundrechtseingriff von geringem Gewicht und lehnte den Antrag auf Außerkraftsetzung der Regelung ab, auch wenn es einräumte, Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit der Schutzmaßnahme seien nicht ohne Weiteres festzustellen.
Am 12. Mai37 setze das OVG Lüneburg in einer anderen Entscheidung die grundsätzliche Quarantänepflicht für Rückkehrer aus dem Ausland außer Vollzug; Antragsteller war ein Deutscher, der aus seinem schwedischen Ferienhaus nach Niedersachsen zurückgekommen war. Die OVG-Richter stellten u.a. fest, es fehle bereits an der erforderlichen Ermächtigungsgrundlage für den Erlass einer derartigen Vorschrift und bejahten die Verletzung „der Freiheit“ der unter Quarantäne Gestellten.38 Als Folge des Urteils haben mehrere Bundesländer erklärt, die generelle Quarantäneregelung für Reiserückkehrende abzuschaffen.39
Ein Eilantrag eines Familienvaters gegen die pandemiebedingte nur Kita-Notbetreuung lehnte der VGH Baden-Württemberg hingegen am 11. Mai ab – die Grundrechte der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG), die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und der Schutz der Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) wurden als nicht verletzt und der Gesundheitsschutz als vorrangig bewertet.40 Am 12. Mai schließlich nahm das Bundesverfassungsgericht zwei Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung an, die das ganze Dilemma der COVID-19-Maßnahmen und ihrer Lockerungen offenbaren: ein 65-jähriger Beschwerdeführer zielte darauf ab, Bund und Länder zu verpflichten, Lockerungen staatlicher COVID-19-Maßnahmen zurückzunehmen. Aufgrund seines Lebensalters gehöre er zu einer Risikogruppe, die Lockerungen kämen auch nach Ansicht wissenschaftlicher Studien zu früh und bedrohten sein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG).
Die Bundesverfassungsrichterinnen und Bundesverfassungsrichter sahen seine Verfassungsbeschwerde als nicht hinreichend substantiiert an41; sie berücksichtige insbesondere nicht den Gestaltungsspielraum, der dem Staat zustehe, um grundrechtliche Schutzpflichten zu erfüllen. Umgekehrt wurde auch die Verfassungsbeschwerde eines jüngeren Mannes, der forderte, Einschränkungen der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung für unter 60 Jahre alte Menschen weiter zu lockern, nicht zur Entscheidung angenommen42; der Staat dürfe Regelungen treffen, die auch den vermutlich gesünderen und weniger gefährdeten Menschen in gewissem Umfang Freiheitsbeschränkungen abverlangten, wenn gerade hierdurch den stärker gefährdeten Menschen ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Teilhabe und Freiheit gesichert werden könne und sie sich nicht über längere Zeit vollständig aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückziehen müssten. Dabei ließen die Grundrechte einen Spielraum für den Ausgleich der widerstreitenden Grundrechte. Dieser Spielraum könne sich mit der Zeit verringern - etwa bei besonders schweren Grundrechtsbelastungen und wegen der Möglichkeit zunehmender Fachkenntnisse über Risiken und anderweitige Eindämmungsmöglichkeiten. Somit wurde die staatliche Lockerungspolitik - Stand Mitte Mai - höchstrichterlich aus Karlsruhe bestätigt.
IV. Fazit
Damit lässt sich zum einen festhalten, dass sich mit der Veränderung des Infektionsgeschehens auch die Einschätzung der Gerichte änderte; der Erfolg der Anträge hing entscheidend von dem Zeitpunkt des Verfahrens ab; mit der Lockerung kamen Verletzungen des Gleichheitsaspekts in den Fokus und insgesamt die Thematik der Verhältnismäßigkeit der Grundrechtseingriffe, die ab Ende April, im Unterschied zur Rechtsprechung in der Zeit davor, häufig nun als nicht mehr gegeben bewertet wurde. Ohne Erfolg blieben allerdings auch ab Mai bisher Eilanträge gegen die Maskenpflicht und die Kita-Notbetreuung sowie Verfassungsbeschwerden sowohl zur Verhinderung von Lockerungen als auch - im Gegenteil - zur Vornahme weiterer Lockerungen.
Zum anderen ist festzuhalten, dass es den Verfahren und damit den Antragstellerinnen und Antragstellern sowie den Gerichten zu verdanken ist, dass Maßnahmen aufgehoben wurden: insbesondere die Ausgangsbeschränkung im Saarland und das komplette COVID-19-Verbot von Gottesdiensten in Kirchen, Moscheen und Synagogen. Damit zeigt sich, wie entscheidend es ist, dass die Bürgerinnen und Bürger den Rechtsweg beschreiten und wie wichtig die Existenz einer unabhängigen Justiz in einem demokratischen Rechtsstaat ist. Das schließt auch ein, dass Beschwerden keinen Erfolg haben, wie sich gerade in den Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen contra und pro Lockerungen zeigt. Seit Anfang Mai sollen nach Angaben des Deutschen Richterbundes rund 1000 Eilanträge vor Gerichten zu den COVID-19-Maßnahmen anhängig sein.43 Die Gerichte werden damit auch weiterhin Gelegenheit haben, die Einhaltung des Parlamentsvorbehalts, den Schutz der Grund- und Menschenrechte und die Beachtung der Verhältnismäßigkeit einzufordern - und einzulösen. Das gebietet das Verfassungsrecht.
1 Berücksichtigt wurden Entscheidungen v. 01.04. bis 15.05.20.
2 Zu den Entwicklungen z.B. (letzter Zugriff auf alle Internetquellen am 15.05.20).
3 § 4 Infektionsschutzgesetz (IfSG), zuletzt geändert durch Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epi-demischen Lage von nationaler Tragweite v. 27.3.20, BGBl I 587. Siehe auch das Zweite Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite v. 14.05.20, dazu, das Mitte Juni in Kraft treten soll und das vorliegend nicht berücksichtigt wurde.
4 https://www.tagesschau.de/inland/corona-schulschliessungen-101.html.
5 https://www.zeit.de/politik/deutschland/20-03/coronavirus-bund-und-laender-vereinbaren-schliessung-von-geschaeften.
6 https://www.tagesschau.de/inland/kontaktverbot-coronavirus-103.html.
7 https://www.tagesschau.de/faktenfinder/hintergrund/corona-chronik-pandemie-103.html.
8 https://www.bundesgesundheitsministerium.de/coronavirus/chronik-coronavirus.html.
9 BVerfGE 108, 282 ff. (Kopftuch).
10 Deutscher Bundestag Wissenschaftliche Dienste, WD 3 – 3000 - 080/20 v. 02.04.20, S. 4 ff. (6).
11 Gärditz/Meinel, FAZ v. 26.03.20, S. 6; Kingreen, SZ v. 26.03.20, S. 6; anders Schoch,.
12 BVerfGE 78, 249 (272).
13 Näher Pieroth in Jarass/ders., GG-Kommentar, 15. Aufl. 2018, Art. 80 Rn. 13 m.w.N.
14 Dazu und zum Folgenden auch: Deutscher Bundestag Wissenschaftliche Dienste, o. Fn. 11, S. 5 ff.; Rixen, NJW 2020, 1097 ff. (1102 f.); Meßling, NZS 2020, 321 ff. (323 f.).
15 Siehe o. Fn. 11, S. 9.
16 So z.B. Art. 80 tunesische Verf. v. 26.01.2014, wonach der Staatspräsident „notwendige Maßnahmen“ ergreifen kann, s. dazu auch Wittinger, Die Bedeutung der Verfassung für Staaten und für die Entwicklung von Staaten: das Beispiel der Verfassung Tunesiens, UBl 2016, 321 (322).
17 Dazu Art. 115a ff. GG. (Verteidigungsfall); in § 115c Abs. 2 GG werden lediglich Abweichungen zu Eigentumsentschädigungen (Art. 14 GG) und zur Dauer einer Freiheitsentziehung (Art. 104 Abs. 2 S. 3 und Abs. 3 GG) zugelassen. Vgl. dagegen Art. 48 Weimarer Reichsverfassung v. 11.08.1919.
18 Dazu statt vieler: Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel am 06.04.20 unter („Gesundheit … immer im Vordergrund“); Interview mit Ministerpräsident Kretschmann im Badischen Tagblatt v. 9.4.20.
19 BVerfGE 115, 118 (153 f.) (Luftsicherheitsgesetz).
20 Näher Jarass in ders./Pieroth, GG-Kommentar, 15. Aufl. 2018, Art. 2 Rn. 96 m.w.N..
21 BVerfGE 49, 24 (53).
22 BVerfGE 88, 203 (254) (Schwangerschaftsabbruch).
23 So auch Schoch, o. Fn. 11.
24 https://www.tagesspiegel.de/politik/bundestagspraesident-zur-coro...-will-dem-schutz-des-lebens-nicht-alles-unterordnen/25770466.html, S.2.
25 Siehe z.B. § 4 AGVwGO Baden-Württemberg i.V.m. § 47 Abs. 6 VwGO.
26 § 32 BVerfGG.
27 Zu weiteren Entscheidungen im Öffentlichen Recht s. COVuR 2020, 35 ff.
28 Beschl. v. 08.04.20- 2 KM 236/20 (juris).
29 Beschl. v. 09.04.20 - 2KM 293/20 (juris).
30 Einstw. Anord. v. 07.04.20 - 1 BvR 755/20, COVuR 2020, 31 Rn. 9.
31 Beschl. v. 27.04.20 - NE 20.793 (juris).
32 Beschl. von 17.04.20 - 2 B 1031/20 (juris).
33 Beschl. v. 28.04.20 - Lv 7/20 (juris).
34 Beschl. v. 10.04.20 - 1 BvQ 28/20, abrufbar unter.
35 Beschl. v. 29.04.20 - 1 BvQ 44/20, abrufbar ibidem.
36 Beschl. v. 05.05.20 - 13 MN 119/20 (juris).
37 Beschl. v. 12.05.20 - 13 MN 143/20 (juris).
38 https://oberverwaltungsgericht.niedersachsen.de/aktuelles/presseinformationen/13-senat-setzt-grundsatzliche-quarantanepflicht-fur-aus-dem-ausland-einreisende-ausser-vollzug-188236.html.
39 https://www.tagesschau.de/inland/quarantaene-coronavirus-101.html.
40 VGH B-W, Beschl. v. 11.05.20 – 1 S 1216/20 (juris).
41 BVerfG Beschl. v. 12.05.20 - 1 BvR 1027/20, abrufbar unter o. Fn. 34.
42 BVerfG Beschl. v. 13.05.20 - 1 BvR 1021/20, abrufbar ibidem.
43 Interview mit dem Präsidenten des Deutschen Richterbundes v. 08.05.20.